Ein Roundtable mit vier Berlinern Literaturwissenschaftler*innen über das (digitale) Sommersemester 2020

Beitrag erschien am 20. April im Rahmen der Literaturwissenschaft in Berlin

Diese Woche beginnt das Corona-Semester, das Studierende wie Lehrende in Schwierigkeiten, aber auch in eine Phase des Experimentierens bringt. Wir haben mit vier Berliner Literaturwissenschaftler*innen über Lehrkonzepte, Kommunikationsweisen und Politik im universitären Ausnahmezustand gesprochen.

Es diskutierten Jannica Budde (Projektmanagerin am Hochschulforum Digitalisierung am CHE Zentrum für Hochschulentwicklung), Constanze Baum (geschäftsführende Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin), Wolfgang Hottner (wissenschaftlicher Mitarbeiter am Peter Szondi-Institut der Freien Universität Berlin) und Iris Roebling-Grau (Gastprofessorin an der Freien Universität Berlin in der Romanischen Philologie und der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft).

Das Gespräch führten Nora Weinelt und Till Breyer

LiB: Zum Einstieg: Was bereitet Ihnen mit Blick auf das bevorstehende Sommersemester momentan am meisten Kopfzerbrechen?

Iris Roebling-Grau:
Am meisten bereitet mir Kopfzerbrechen, dass ich noch kein passendes Format für einen synchronen Austausch im Seminar gefunden habe. Leseaufgaben und textbasierter Austausch werden wahrscheinlich gut funktionieren. Für die Verbindlichkeit aber glaube ich, dass es gut ist, wenn sich alle mindestens dreimal auch sehen und direkt miteinander sprechen können. Das kreiert, gerade in dieser Situation, ein Gefühl von Gemeinschaft. Deswegen teste ich zurzeit verschiedene Programme mit Freundinnen, was manchmal sehr lustig ist.

Wolfgang Hottner: 
Ich teste auch noch und werde mir dabei immer unsicherer, ob ich synchrone Formate für das Seminarplenum überhaupt einsetzen werde, zumindest am Anfang würde ich gerne ausprobieren, wie weit man ohne sie kommt. In kleineren Gruppen fand ich es auch produktiv, ab einer gewissen Anzahl an Personen eher unkonzentriert und anstrengend.

Textbasierter Austausch wird wohl klappen, auch weil alle bereits eine gewisse Routine darin besitzen. Mir bereitet im Moment aber auch die Befürchtung Kopfzerbrechen, dass man mit dem starken Fokus auf textbasierte Formate (Übungen, Responsepaper, Lektüretagebücher, Leseeindrücke) Studierende zur ständigen Kommunikation verpflichtet und ihnen damit in diesem Semester die Möglichkeit nimmt, Liegengebliebenes fertigzuschreiben oder sich auf eigene Schwerpunkte zu konzentrieren. 

Am meisten treibt mich aber die Frage um, wie man sich vom wöchentlichen Semesterrhythmus, vom Ein-Text-pro-Sitzung-Modell lösen könnte, ohne dass das Semester chaotisch oder reines Selbststudium wird. Und vor allem: wie sich über das Semester hinweg das einstellen und aufrechterhalten lässt, was interessante Seminare meiner Meinung nach auszeichnet: Spontaneität, Offenheit, Verweilen bei scheinbar Nebensächlichem sowie die Eigendynamik zwischen den Teilnehmer*innen.

LiB: Frau Baum, Sie sind am Institut für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität tätig. Wie sieht es bei Ihnen aus?

Constanze Baum:
Derzeit beschäftigen mich rund um die Uhr viele Prozesse in der Studiengangskoordination meines Instituts, für die ich neben der Planung meiner eigenen Lehrveranstaltungen zuständig bin. Alle vertrauten Abläufe sind aufgekündigt und es galt und gilt, für anstehende Prüfungen, Lehrveranstaltungen und Gremiensitzungen digitale Lösungen zu finden, ohne dass man weiß, auf wie lange Sicht man das angehen soll. „Derzeit“ und „bis auf weiteres“ sind momentan die von mir am häufigsten verwendeten Vokabeln. 

Wir müssen leider auch etliche Seminare absagen, gerade wenn eine starke Praxisorientierung geplant war oder Lehrbeauftragte unter diesen Umständen ihr Lehrangebot nicht aufrecht halten können. Das Lehrangebot in den digitalen Raum zu heben und dabei die Flut an Informationen, Fragen, Problemen etc. in den Griff zu kriegen, zu bündeln und strukturiert für die jeweiligen Beteiligten bereitzustellen, das ist derzeit mein größtes Sorgenkind. Zugleich an einer Atmosphäre der positiven Versicherung auf allen Kanälen arbeiten, damit alle „an Bord“ bleiben und sich – auch mit ihren Bedenken – nicht überfahren, sondern einbezogen fühlen. Ich muss Kolleg*innen digital in den Ruhestand verabschieden und neue Kolleg*innen am Institut per E-Mail erklären, wie sie sich an ihrer neuen Uni digital zurechtfinden und ad hoc Lehre ohne Präsenz umsetzen. Wird das alles gut gehen? Ich selbst arbeite schon länger im seminaristischen Unterricht flankierend mit verschiedenen digitalen Anwendungen (Erstellen von kleinen Wikis/Glossaren, Nutzung von Etherpads für kollaboratives Arbeiten etc.), aber das ging immer mit Erklärungen im Seminarraum und wichtiger Präsenzzeit einher und offenbarte oft genug, dass viele Studierende nicht so „digital native“ sind, wie man glaubt …

LiB: Frau Budde, Sie arbeiten bei dem Think Tank Hochschulforum Digitalisierung und sind deshalb mit Prozessen vertraut, die jetzt akut werden. Wo sehen Sie die zentralen Probleme?

Jannica Budde:
Die vorherigen Antworten verdeutlichen, was wahrscheinlich an allen literaturwissenschaftlichen Instituten gerade diskutiert und erfahren wird. Digitale Formate sind schön und gut, wenn es um Wissensvermittlung geht, aber literaturwissenschaftliche bzw. geisteswissenschaftliche Lehre lebt halt auch vom Dialog – was übrigens auch gerne in strategischen Diskussionen zur Weiterentwicklung der Lehre als Argument gegen digitale bzw. Online-Formate in der literaturwissenschaftlichen Lehre eingewendet worden ist, zu Zeiten als man es sich noch leisten konnte. Ohne große institutionelle Unterstützung und Richtlinien haben viele Lehrenden im Kleinen experimentiert und dabei auch tolle Ideen entwickelt, jetzt sind aber plötzlich Lösungen gefragt, die die Literaturwissenschaft als Ganzes transformieren können, z.B. durch neue Standards und Strukturen. Und vielleicht zeigt sich ja auch, dass es doch ganz gut geht mit der digitalen literaturwissenschaftlichen Lehre.

Mich treibt daher die Frage um, wie wir im Hochschulforum Digitalisierung Lehrende und Hochschulleitungen bei der Bewältigung dieser Krise unterstützen können, so dass möglichst viel Semester im Sommer stattfinden kann. Welche Informationen und Angebote sind sinnvoll, ohne Lehrende vollends zu überlasten? Wie können wir Fachcommunities, unterstützen, die über Online-Lehre diskutieren? Was benötigen Hochschulmanager*innen? Neben einzelnen (neuen) Formaten, die ganz klar für die verschiedenen Fachgebiete unterschiedlich sinnvoll sind, geht es hier u.a. auch um die Frage nach Kooperationen zwischen Hochschulen, Fakultäten und Instituten sowie nach Anrechnungsmöglichkeiten von bestehenden digitalen Lernangeboten.

LiB: Constanze Baum hat bereits die Kommunikation unter Kolleg*innen angesprochen: Wie genau läuft das an Ihren Instituten ab? Haben sich Arbeitsgruppen gebildet, holen Sie die Meinung der Studierenden ein?

Constanze Baum:
Es gibt bereits etablierte E-Mail-Verteiler für institutsweite Regelungen, die wir natürlich jetzt intensiv nutzen, um alle möglichst gut informiert zu halten. Außerdem haben sich jetzt Interessensgruppen für bestimmte Lehrformate gebildet (hier vor allem Vorlesungen). Vieles funktioniert ganz unhierarchisch und ungeregelt: befreundete Kollegen probieren neue digitale Formate gemeinsam aus oder erklären sich Tools am Telefon. 

Die Meinung der Studierenden einzuholen, ist schwieriger, denn wir haben keine Verteiler, über die wir die Studierenden unseres Instituts separat erreichen könnten, und wissen derzeit noch nicht, welche Studierende welche Kurse besuchen werden. Das kann also nur punktuell geschehen, wird dann aber vielleicht Teil einer neuen digitalen und kollaborativen Lehrkultur im Sommersemester sein. Unsere Lernplattform bietet die Möglichkeit, den Studierenden auch Bearbeitungsrechte für bestimmte Kursbereiche einzuräumen, sodass hier die Studierenden auch aktiv gestaltend in der digitalen Lehre mitwirken könnten. Die Studierenden selbst sind nach meiner Einschätzung derzeit zurückhaltend. Auch aus unserer Fachschaft haben wir bislang nichts gehört. Vielleicht warten sie ab, bis die Weichen zu einer digitalen Lehre im Sommersemester offiziell gestellt sind, derzeit sind das ja vor allem vorbereitende Arbeiten im Hintergrund. 

Gut ist, dass wir schon länger einige digitale Werkzeuge nutzen und dadurch die Schwellen für alle Beteiligten etwas geringer sind. Auch der Ausbau digitaler Ressourcen und e-Lizenzen durch die Bibliotheken im Rahmen der Open Access-Offensive ist jetzt natürlich sehr willkommen, um über das Intranet aus dem HomeOffice heraus Texte und Materialien vorbereiten zu können. 

Da wir ein großes Institut sind, haben wir zudem einen eigenen E-Learning Kurs auf unserer Moodle-Plattform eingerichtet. Wichtige Informationen, die die digitale Lehre betreffen, stellen wir dort gebündelt zusammen. Dies auch, um den Kanal „E-Mail“ zu entlasten. Im eKurs haben wir auch ein Forum eingerichtet, in das jeder Lehrende Ideen und Fragen zur Gestaltung und Umsetzung digitaler Lehre posten kann.

Erste Fragen betreffen die Bewirtschaftung von Datenmengen und datenschutzrechtliche Bedenken. Etliche Lehrende fürchten, dass selbsterstellte Videos einerseits viel Datenvolumen in Anspruch nehmen und andererseits schnell viral gehen können. Es bewegt sich also eine ganze Menge auf verschiedenen Ebenen. Eine gemeinsame digitale Agenda haben wir aber nicht (und auch nicht die Zeit eine zu entwickeln), und die Stimmung scheint mir auch wenig von einem digitalen Pioniergeist bestimmt, sondern in den meisten Fällen von der wichtigen Notwendigkeit geprägt, den Studierenden ein Sommersemester zu ermöglichen.

Iris Roebling-Grau:
Was Constanze Baum für die HU beschrieben hat, gilt weitestgehend auch für die FU. Es gibt aber auch Formen des Austausches, die erst in den letzten Wochen entstanden sind: In der Romanistik wurde ein Wiki aufgesetzt mit Informationen zu Programmen und Planungshilfen für die Konzeption digitaler Seminare. Etwas Ähnliches hat sich auch am Peter Szondi-Institut entwickelt. Dort wurde von David Wachter eine AG ins Leben gerufen, an der sich Lehrende und Studierende beteiligen. Diese Gruppe hat einen hilfreichen Leitfaden entwickelt, in dem Modelle für digitale Seminare beschrieben sind. In dieser AG sind die Studierendenvertreter*innen sehr aktiv. Ihre Vorschläge, Wünsche und Bedenken werden gehört und einbezogen. Am Freitag mussten alle Lehrenden des Instituts ihre Seminarpläne und aktualisierten Kommentare einreichen, damit die Studierenden die Möglichkeit erhalten, dazu Stellung zu nehmen. Sie können die Konzepte der Lehrenden mit Kommentaren versehen und wieder zurückspielen. Auf diesem Weg wird die Planung der digitalen Lehre mit den Teilnehmenden abgestimmt. Wem das zu offiziell ist, der kann sein Anliegen auch vertraulich den Studierendenvertreter*innen mitteilen, die es anonymisiert weiterleiten. Es ist ja vorstellbar, dass auch persönliche Aspekte (finanzielle Probleme etwa, weil der Job weggebrochen ist) das kommende Semester bestimmen werden.

Wolfgang Hottner:
Das gegenseitige Kommentieren von Seminarplänen, das Gegenlesen von Reflexionen zum Seminarmodus hat mir sehr geholfen in der letzten Woche. Auch für uns am Szondi-Institut war das Gespräch mit den Studierenden wichtig. Deren Ideen und Wünsche sollten schon in dieser Phase mit einbezogen werden, denn einige der herkömmlichen Gründe für eine Seminarwahl – weil befreundete Studierende das Seminar wählen, geht man auch hin; eine bestimmter Diskussions- und Seminarstil, den man liebgewonnen hat, günstiger Seminarzeitpunkt, usw. – greifen ja diesmal nicht so recht. Sich vorab orientieren zu können, scheint mir wichtig. Einige haben sich auch eh schon entschieden: Ich habe Mails von Studierenden bekommen, die sich bereits auf ein konzentriertes Selbststudium im Sommer freuen – auch das, finde ich, sollte möglich sein.

LiB: In der aktuellen Situation wird auch deutlich, dass gerade in der Lehre Form und Inhalt nur schwer voneinander zu trennen sind. Wie wirken sich die veränderten Bedingungen auf den Stoff Ihrer Seminare aus? Fallen bestimmte Stoffe zwangsläufig weg? Oder können sogar umgekehrt die speziellen Formate, in denen jetzt unterrichtet werden muss, in literaturwissenschaftliche Themenstellungen eingehen?

Wolfgang Hottner:
Ich hatte in der Aufregung der letzten Woche schon das Gefühl, einige Seminarvorhaben ändern zu müssen. Ein Lektüreseminar zu Hegels Ästhetik beispielsweise lebt von der gemeinsamen wöchentlichen Diskussion, die mal schneller, mal langsamer geht, deren Verlauf sich auch nicht wirklich vorhersagen lässt. Einen solchen Text in Abschnitte einzuteilen, die dann überwiegend im Selbststudium erarbeitet werden, schien mir nicht erstrebenswert. 

Sich von thematischen oder stofflichen Zielvorgaben zu lösen, finde ich gar nicht so dramatisch. Was aber durch die neue Situation erschwert werden könnte, ist eine Form der Lehre, die nicht so sehr auf die Vermittlung von ‚relevanten‘ Inhalten oder einem vorab portionierten ‚Stoff‘ zielt, sondern die die Seminarsituation dazu nutzt, neue Ideen auszuprobieren. Viele meiner Seminare, vor allem für die höheren Semester, basierten bisher auf dem Vertrauen, dass man – ich selbst sowie die Studierenden – im Laufe der Sitzung, im gemeinsamen Gespräch oder Streit an einen Punkt gelangt, an den man alleine nicht gekommen wäre. 

Vielleicht lässt sich dies aber durch die gemeinsame Arbeit an kleineren Projekten kompensieren. Ich werde – da mir das für die Komparatistik eh zentral scheint – ein Seminar zum Übersetzen unterrichten, in dem die Studierenden (und ich selbst) im Laufe des Semesters ein eigenes Übersetzungsprojekt verwirklichen. Die konkreten Probleme und Fragen, die dabei auftauchen werden, könnten dann in einem Forum, in kleinen Gruppen diskutiert werden. In einem anderen Seminar zu digitaler Literatur möchte ich mit den Studierenden diejenigen Schriftsteller*innen interviewen, deren Texte wir vorher gemeinsam gelesen haben. Ich hege die vage Hoffnung, dass die Arbeit an solchen Übersetzungs- und Publikationsprojekten für alle Beteiligten anregender sein könnte, als die Konzentration auf zu vermittelnden ‚Stoff‘. Wenn am Ende dieses Sommers ein paar interessante Gedichte übersetzt worden sind und einige halbwegs interessante Gespräche über digitale Schreibweisen entstanden ist, wäre das sicherlich ein interessantes Format, über das man auch in Zukunft nachdenken könnte. 

Constanze Baum:
Wir haben auch eine Abfrage gemacht, ob alle denken, dass die geplanten Lehrveranstaltungen ins Digitale transferierbar sind. Eigentlich wurde nur dort geändert und abgesagt, wo es explizit um außeruniversitären Lernorte ging, z.B. Arbeit im Archiv, Besuch von Theaterveranstaltungen. Fast alle bieten ihre Lehrveranstaltungen unter dem geplanten Titel an und stellen sich den Herausforderungen, die auch Kollege Hottner so treffend beschreibt: Man sucht neue Wege der Präsentation, vieles wird sich erst im vollen Lauf als praktikabel erweisen (oder auch nicht). Statt um Routinen geht es um das Einüben von Flexibilität. Als Lehrende wird man hier in einer neuen Rolle gefragt sein, auch stärker differenzieren müssen, z.B. für Studierende, die nicht über ausreichende technische Ausstattung verfügen, um an Video-Schaltungen teilzunehmen. Ich denke auch über das Aufsplitten meiner Kurse in kleinere Arbeitsgruppen nach, denn bei erwarteten Seminargrößen von 35+ kann ich mir das produktive Gespräch im Video-Chat noch nicht wirklich gut vorstellen.

Ein Seminar werde ich zu E.T.A. Hoffmanns intermedialem Universum geben: Hier spielt mir zu, dass die Staatsbibliothek vor kurzem ein sehr schönes Portal aufgesetzt hat, das verschiedene digitale Einstiege und tolles Bild-Ton-Text-Material bietet. Also wird es vielleicht über das Lesen von bereitgestellter oder vereinbarter Lektüre hinaus solche digitalen Erkundungen von wissenschaftlichen Angeboten im Netz geben (ein Lernauftrag könnte sein: Bewertung/Evaluation solcher Angebote). Man kann sie auf einem Etherpad-Tool oder in einem kleinen Wiki kollaborativ zusammentragen. Ich habe mir auch gestern Camtasia heruntergeladen und möchte diese Woche Zeit finden, damit ein oder zwei kleine Tutorials aufzunehmen, ich stelle mir eine Art How-To-YouTube-Video-Simulation vor: Wie recherchiere ich in literaturwissenschaftlichen Datenbanken für eine Hausarbeit zu Das öde Haus?, bei der ich mich einfach selbst beim Recherchieren und im Selbstgespräch mit den Datenbanken und OPACs filme…. 

Mein zweites Seminar bereitet mir mehr Kopfzerbrechen, denn hier wollte ich zwar sehr digital arbeiten und mit den Studierenden in einer Open source Umgebung eine virtuelle Ausstellung zur Aktualität von Antike im Drama aufbauen, aber hierfür wären gemeinsame Schulungen wirklich sehr wichtig, also der Blick über die Schulter beim Erfassen von Metadaten. Ob sich das mittels digitaler Anleitung lenken lässt (über Screenshots), weiß ich noch nicht. Für das Seminar wird es also daher vielleicht einen zweiten Teil im nächsten Semester geben und wir tragen jetzt erst einmal zu verschiedenen mythologischen Stoffen Texte, Befunde und Materialien zusammen: sortieren, beschreiben, kommentieren – ohne die Überführung in die komplexe Datenarchitektur einer virtuellen Ausstellung.

Iris Roebling-Grau:
Die größte Herausforderung besteht, wie ich denke, darin, erarbeitete Inhalte wieder zusammenzuführen und also das zu simulieren, was in unseren Seminaren so zentral ist: die Diskussion, den direkten Austausch über Texte. Wir werden sehen, ob dieser Aspekt über Paper und gemeinsam erstellte Wikis gerettet werden kann. Wenn die Studierenden kreativ sind, dürfen sie sich gerne auch daran versuchen, einen Roman in Form eines Videos zu präsentieren. Dafür gibt es kluge und witzige Vorbilder auf Youtube. Eine solche Aufgabe aber kann man natürlich nicht verpflichtend machen. Ich möchte die Teilnahme auch allen ermöglichen, die zuhause nur einen Computer mit einfachem Internetanschluss haben. 

Für eines meiner Seminare wird sich die aktuelle Situation vielleicht als Vorteil erweisen, weil wir etwas ausprobieren werden, das ich in einem normalen Semester nicht gewagt hätte. Wir lesen zwei zentrale Texte der spanischen Mystik, der eine ist von Teresa von Ávila, der andere von Ignatius von Loyola. Seine Exerzitien sind eine Anleitung zur Kontemplation, die sich über vier Wochen erstreckt. Über genau diesen Zeitraum bitte ich die Studierenden, ein Lesetagebuch zu führen, in dem sie ihre Auseinandersetzung mit dem Text reflektieren. Für eine solche Aufgabe jedenfalls ist Social Distancing eine ideale Voraussetzung. Ich bin gespannt…

LiB: Frau Budde, Sie setzen sich mit solchen spezifischen Herausforderungen von Digitalisierung und digitaler Lehre schon länger auseinander, vor allem im Hinblick auf nachhaltige Strategien. Welche Lösungsansätze gäbe es für das angesprochene Form-Inhalt-Problem aus Ihrer Sicht, gerade im Fall von diskussionsbasierten Seminaren?

Jannica Budde:
Tatsächlich ist das zurzeit genau die große Herausforderung. Die strategischen Ansätze der vergangenen Jahre waren vor allem Blended-Learning-Ansätze, so dass Lehrende aus Fächern, deren Veranstaltung eher auf Wissensvermittlung basieren, genau das tun konnten, was die Literaturwissenschaft seit jeher tut: die Präsenz für Diskussion, Vertiefung und Transfer nutzen. Deswegen muss wohl leider momentan eher experimentiert werden, welche Formen sich für die „Digitalisierung“ von diskussionsbasierten Seminaren nachhaltig eignen. Ich finde die hier beschriebenen Lösungsansätze (kleinere Webinare, asynchrone Formen der Kollaboration, kreative Reflexion von Literatur etc.) aber sehr spannend und erfolgsversprechend. Wichtig ist auch, die Studierenden bei der Entwicklung neuer Formate miteinzubeziehen. 

LiB: In der Corona-Krise spitzen sich auch unter den Angehörigen der Universitäten soziale Problemlagen zu, von der Notwendigkeit häuslicher Kinderbetreuung bis zur Gefährdung des Einkommens. In den letzten Wochen wurde ein offener Brief kontrovers diskutiert, der ein „Nichtsemester“ fordert, um solche Prekaritäten mit Beginn der Vorlesungszeit nicht noch zu verschärfen. Wie kann oder soll sich die universitäre Lehre Ihrer Meinung nach zu dieser sozialen Dimension verhalten?

Constanze Baum:
Das ist eine komplexe Problematik, für die wir vermutlich eigene Instrumente bzw. eine eigene Sensibilität entwickeln müssen. Für die Mitarbeiter*innen der Universität sind die Gehälter ja zunächst einmal für die Vertragslaufzeit gesichert, hier empfinde ich es so, dass wir derzeit eher in einer Luxussituation gegenüber anderen Arbeitgebern und Wirtschaftszweigen sind. Und Homeoffice ist zumindest den Forscher*innen meist schon vertraut, wenn auch nun unter anderen häuslichen Bedingungen. Anders sieht es da natürlich in der Wissenschaftsverwaltung aus. Wichtig für den befristeten Nachwuchs wäre sicherlich die Nicht-Anrechnung auf das WissZeitVG, wie sie am 8. April von der Bundesforschungsministerin versprochen wurde, denn Forschung im Sinne der eigenen Qualifikation kann ja jetzt wirklich nur noch in Einzelfällen sinnvoll stattfinden. Wer sich rechtzeitig mit Forschungsliteratur eindecken konnte, bevor die Bibliotheken geschlossen wurden, mag in der Lage sein, jetzt noch an Aufsätzen oder Buchkapiteln zu schreiben, aber Archivbesuche, Workshops und Tagungen, all das ist ja eingefroren. Ich fände es nur fair, wenn es also hier Regelungen gibt, wie es sie auch für die Studierenden geben soll: statt Nicht-Semester sollte es also für alle ein Kulanz-Semester werden. Das finde ich begrüßenswert, auch aus sozialen Gesichtspunkten und sozialen Härten, die dadurch abgemildert oder aufgefangen werden können. Den Studierenden werden Angebote gemacht, um den Studienverlauf nicht zu unterbrechen, die Lehrenden können ihren Lehrverpflichtungen ohne penible Abrechnung von Einzelstunden nachkommen, alles sollte flexibilisiert und mit größtmöglichen Gestaltungsspielräumen und sehr viel Selbstverantwortlichkeiten versehen werden, um Nachteile auf beiden Seiten auszugleichen. Für meine digitale Lehre werde ich zu Beginn versuchen abzufragen, wer unter welchen Bedingungen Teilnehmer*in meines Kurses ist, um mich auf meine Lerngruppe einzustellen und keine digitalen Angebote zu machen, die an den technischen wie sozialen Möglichkeiten der Studierenden vorbeigeht. Wir haben jetzt auch die Chance, eine Studienkohorte auf digitale Werkzeuge einzuschwören und Zeit, dies gemeinsam zu erproben, Stichwort: digital literarcy.

Durch ein tatsächliches Nicht-Semester würde meiner Einschätzung nach eher eine Verschärfung sozialer Problemlagen vorangetrieben werden, wodurch sich Studienbiographien verzögern  und psychische Belastungen verschlechtern. Ein freies Selbststudium ohne Korrektiv und Anforderungskatalog kenne ich natürlich im Prinzip noch aus alten Magistertagen. Aber die jetzige Studierendengeneration ist m.E. durch das durchstrukturierte modulare Studium anders sozialisiert und sollte daher akademisch begleitet durch die Zeit manövriert werden – mit Optionen, auch Studienleistungen zu erbringen.

Ich will dabei die Herausforderungen und Härten des Pandemie-Alltags nicht kleinreden. Ich bin selbst davon betroffen, in einer kleinen Wohnung mit zwei schulpflichtigen Kindern, ohne Trampolin im Garten, jeden Tag irgendwie gestalten, mit Sinn und Leben zu füllen und allen Ansprüchen gerecht zu werden. Ich glaube aber, dass man mit Augenmaß in der digitalen Lehre die Möglichkeit hat, auch manches abzufangen und Wege aufzuzeigen. 

Jannica Budde:
Ich möchte mich Frau Baums Vorschlag eines „Kulanz-Semesters“ anschließen, was ja m.E. auch im Sinne der Initiatorinnen des offenen Briefes ist. Vielleicht ist auch der Begriff „Nicht-Semester“ irreführend. Wichtig ist aber nicht nur, dass Studierende jetzt die Chance bekommen, weiter zu studieren, sondern auch die Möglichkeit haben, das Gegenteil zu tun. Schließlich gibt es auch Studierende mit Kindern, die nun erst einmal ohne Kinderbetreuung dastehen, die gerade Existenzsorgen haben, weil sie ihren Job verloren haben, oder die um das Leben oder die Gesundheit eines Angehörigen bangen. Da kann eine gewisse Erwartungshaltung von Seiten der Universitäten die psychische Belastung noch eher erhöhen. 

Die aktuelle Situation macht auch auf eine andere soziale Dimension von Lehre aufmerksam – nämlich das Miteinander der Lehrenden untereinander. Zeit das Einzelkämpferdasein zu durchbrechen: Trotz in Startlöchern stehender Seminare sollten Lehrende jetzt schauen, wie sie sich gegenseitig unterstützen können. Wo nicht so technikaffigen Kolleg*innen unter die Arme gegriffen werden kann, auch über das Sommersemester hinweg. Dies würde Mitarbeiter*innen von Servicestellen zudem etwas entlasten. Auch die Nutzung und Bereitstellung offener Bildungsmaterialien (OER) gehört für mich zu einer dringend gebrauchten Kultur des Miteinanders an Hochschulen. 

Essentiell ist in dieser Situation aber auch, dass die einzelnen Lehrenden nicht von Instituts-, Fakultäts- und Universitätsleitung alleine gelassen, sondern unterstützt werden – beispielsweise durch Leitlinien, wie mit Studierenden umgegangen werden soll, die eben keinen Computer zu Hause haben oder die aufgrund physisch-psychischer Belastung ein Seminar im Sommersemester eben nicht abschließen konnten. Genauso braucht es kulantere, aber klare Leitlinien für die Anrechnung von Kursangeboten, die nicht an der eigenen Hochschule stattfinden. So kann sichergestellt werden, dass Studierende nicht ein Semester länger studieren müssen, weil eine Veranstaltung im Sommersemester nicht angeboten werden konnte. Ein „Kulanz-Semester“ wird sicherlich auch Auswirkungen auf das Wintersemester haben. Hier bedarf es gemeinsamer Anstrengungen und gemeinsamen Willen von Seiten des Hochschulmanagements, der Lehrenden sowie der Studierenden, um in dieser Situation wirklich sozial gerecht agieren zu können. 

Wolfgang Hottner:
Kulanz, Rücksichtnahme und Flexibilität werden sicherlich entscheidend sein in den nächsten Monaten, auch wenn, wie Constanze Baum schon richtigerweise gesagt hat, eine gewisse Verbindlichkeit nicht schaden kann: Planbarkeit sollte gewährleistet sein, für die Studierenden in Bezug auf einen individuellen, allen Belastungen und entstehende Problemlagen berücksichtigenden Ablauf des Semesters, in Bezug auf noch zu schreibende oder gerade entstehende Abschlussarbeiten, aber auch für die zumeist befristet angestellten Mitarbeiter*innen und Lehrbeauftragten, die einen Großteil des Kommenden zu stemmen haben, deren vorlesungsfreie Zeit, in vielen Fällen kostbare Schreibzeit, nun von der Einarbeitung in neue ‚Formate‘ dominierte wurde. Eindeutig und frühzeitig kommunizierte Signale, wie die Nicht-Anrechnung dieser Zeit auf das WissZeitVG, wären jetzt wichtig und würden sicherlich auch den erhöhten Druck reduzieren, der durch die gegenwärtige Situation entstanden ist – eigene Forschung ist im Moment schon schwierig und wird während des laufenden Semesters noch weniger möglich sein.

Die Offenheit der Situation, die zu erwartende Auflösung von Studienroutinen, Abläufen und Anforderungskatalogen im kommenden Semester bietet aber vielleicht auch die Möglichkeit, lange Zeit unhinterfragte Gegebenheiten des universitären Alltags zu überdenken: zum Beispiel die oft übertrieben hohe Zahl an Prüfungsleistungen, die in den modularisierten und hochgradig strukturierten Studiengängen zu erbringen sind (samt dem damit verbundenen Prüfungs-, Korrektur- und Begutachtungsaufwand) und die sich für viele erwerbstätige, in Betreuungs- und Careverpflichtungen eingebundene Studierende schon unter ‚normalen‘ Bedingungen kaum sinnvoll bewältigen lassen.

Iris Roebling-Grau:
Dem Vorschlag eines „Kulanz-Semesters“ kann ich mich nur anschließen. Damit wäre sowohl den Studierenden geholfen, die das Semester nicht verlieren wollen und also Seminare belegen werden, als auch denen, die in diesem Semester ihr Studium nicht (in vollem Umfang) fortsetzen können. Auch sollten BAföG-Fristen nicht greifen, Stipendien nicht verfallen, so dass der Schaden begrenzt wird. Dass die Lehrenden, wie oben erwähnt, in ihren Seminaren versuchen, auf die jeweilige Situation der Studierenden einzugehen, scheint mir ebenfalls selbstverständlich. Und dann eröffnet uns dieses Semester sicher die Möglichkeit, auch bei den Prüfungsformaten flexibel zu reagieren.

Schwerer ausgleichen kann man wohl den von Constanze Baum und Wolfgang Hottner angesprochenen Verlust der Semesterferien als einer Phase, die für alle Lehrenden und Forschenden eine existenzielle Zeit darstellt. Nur in diesen Wochen kann man die eigenen Projekte wirklich voranbringen. Das aber ist bei geschlossenen Bibliotheken und Schulen (in Bayern zum Teil schon lange vor der Ausgangsbeschränkung) ziemlich schwierig. Hinzu kam die bereits erwähnte nötig gewordene neue Konzipierung der Seminare, die Beschäftigung mit möglichen digitalen Formaten und die große Aufgabe der Literaturbeschaffung (Digitalisierung) für die eigenen Veranstaltungen – bei Schließung praktisch aller Gebäude der Universität. Diese Zeit wird man im anstehenden Semester kaum aufholen können. Sollten sich befristete Arbeitsverträge verlängern lassen, so wäre das sicherlich wünschenswert, um auch für die Lehrenden die Folgen abzufedern und die Lage zu entspannen.  

LiB: Vielen Dank Ihnen allen für das Gespräch!

Jannica Budde ist Projektmanagerin für das Hochschulforum Digitalisierung am CHE Centrum für Hochschulentwicklung. Sie ist verantwortlich für die Themen Strategie und Hochschulentwicklung im digitalen Zeitalter und koordiniert u.a. die Peer-to-Peer-Strategieberatung zur Unterstützung von Digitalisierungsstrategien für die Lehre. Sie promovierte an der Universität Paderborn im Bereich der interkulturellen Germanistik zu „Interkulturellen Stadtnomadinnen“ in deutsch-türkischer und türkischer Gegenwartsliteratur.

Constanze Baum ist geschäftsführende Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitbegründerin von H-Germanistik. Sie hat die Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften (ZfdG) als leitende Redakteurin maßgeblich aufgebaut; derzeit arbeitet sie im Präsenznotbetrieb mit zwei schulpflichtigen Kindern im Hinterhaus-Homeoffice an der Umstellung auf den digitalen Lehrbetrieb.

Wolfgang Hottner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Peter Szondi-Institut der Freien Universität Berlin. Seine Dissertation Kristallisationen. Ästhetik und Poetik des Anorganischen ist Anfang 2020 bei Wallstein erschienen, im Moment schreibt er an einer Studie zur Geschichte und Theorie des Reims.

PD Dr. Iris Roebling-Grau ist Gastprofessorin an der Freien Universität Berlin in der Romanischen Philologie und der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. Sie hat ihre Habilitationsschrift zum identifikatorischen Lesen anhand von Texten geschrieben, die für die Lesenden als Spiegel konzipiert sind. Aktuell beschäftigt sie sich mit dem Zusammenhang zwischen Empathie und Erzählstimme und hätte in den letzten Wochen gerne einen Aufsatz zu Victor Hugo fertiggestellt.

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