Virtual Reality – Auf den Zahn gefühlt

Ein Pilotprojekt von LMU-Zahnmedizinern soll Studierenden ermöglichen, mithilfe von Virtual-Reality-Brillen zu lernen und sich auf Patientenbehandlungen vorzubereiten. Zukunftsmusik oder schon Realität?

Der Backenzahn ist rund einen Meter groß. Federleicht lässt er sich drehen und wenden. Einmal geworfen, kehrt er wie ein Boomerang immer wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück. Klingt komisch? Ist aber Virtual Reality. In der neuen VR-Anwendung von PD Dr. Anja Liebermann und Dipl.-Ing. Dr. Kurt Erdelt stehen angehende Zahnärzte inmitten von Mündern, Kiefern und Zähnen. „Ein bisher noch nicht dagewesenes immersives Lernerlebnis”, schwärmt die Privatdozentin.

Bevor Studierende allerdings mit Händen und Füßen in die Lernumgebung eintauchen konnten, hatten Liebermann und Erdelt einen langen Weg hinter sich. Vor rund drei Jahren starteten die beiden Wissenschaftler ihr Herzensprojekt. „Damals entstand die Idee aus einer Laune heraus”, erinnert sich Liebermann zurück. „Wir dachten einfach ‚Das hätten wir gern selbst im Studium gehabt!”’. Allerdings gab es da in ihrem Bereich erstmal nichts. Keine Infrastruktur, keine Technik, keine Erfahrungswerte. Deswegen machten sie sich in Eigenregie auf und fingen klein an.

Erste Schritte

„Das war unser erstes Projekt”, sagt Dr. Erdelt und hält eine VR-Brille in der Hand. Die entpuppt sich allerdings als Mogelpackung. Der Teil, in dem eigentlich die Linsen stecken, lässt sich aufklappen. „Hier steckt man einfach sein Handy rein.” Für dieses Gerät entwickelten die beiden Wissenschaftler dann erste Animationen. Ein Zahn, der sich dreht, ein wenig Text. Immerhin dreidimensional, aber da geht noch mehr, dachten sie sich.

Der nächste Schritt? Videos. Dazu brachten sich Dr. Erdelt und Dr. Liebermann selbst das Filmen in drei Dimensionen bei. „Wir haben kleine Lehreinheiten mit zwei Kameras gedreht, die nebeneinander auf einer Vorrichtung montiert wurden”, so Erdelt. Dadurch wurde ein 3D-Effekt erzeugt. „Mal ganz von den technischen Spielereien abgesehen, die uns sehr viel Freude bereitet haben, haben wir sehr gutes Feedback von Studierenden bekommen. Wirklich 100% haben uns darum gebeten, das auch in Vorlesungen einzubauen.” Es war ein erster Hinweis für Liebermann und Erdelt, dass ihr Weg in die richtige Richtung geht. Und: Welche Rolle Immersion beim Lernen spielen könnte.

„Universell einsetzbar”

Ähnliches Feedback hat auch Informatikprofessor Dieter Kranzlmüller oft gehört. Er ist Leiter des Leibniz-Rechenzentrums, lehrt bereits seit vielen Jahren zu Virtual Reality und unterstützt mit seinem Team VR-Projekte aus unterschiedlichsten Fachbereichen. „Virtual Reality findet an der LMU beispielsweise auch in der Geophysik und den Kunstwissenschaften Anwendung”, erzählt Kranzlmüller. „Sie ist universell einsetzbar und bietet den großen Vorteil, auch andere Blickwinkel auf Daten zu ermöglichen.”

„Die Immersion geht so weit, dass sich unsere Tester nicht getraut haben, in der Lernumgebung von der Plattform zu springen, auf der sie stehen”, lacht Dr. Erdelt. Professor Kranzlmüller wiederum erzählt von einem älteren Professorenkollegen, der plötzlich mit VR-Brille auf dem Boden lag und davon schwärmte, seine Daten noch nie aus dieser Perspektive gesehen zu haben.

Dabei ist Virtual Reality kein vollkommen neues Thema. „Bereits in den 60er-Jahren gab es erste Head-Mounted-Displays. Seitdem kam und ging das Interesse an Virtual Reality in Wellen”, so Kranzlmüller. Sobald die Realität technischer Möglichkeiten mit den träumerischen Anforderungen an Virtual Reality brach, verschwand sie auch wieder aus dem Rampenlicht. Im Gegensatz zu früheren Hochs sieht Kranzlmüller aber heute einen Unterschied: „Wir sind an einem Wendepunkt. Denn die Anwendungsbereiche für VR sind hochaktuell. Nicht nur in der Lehre, sondern auch beispielsweise im Klimaschutz, indem man durch interaktive VR-Tagungen Fernreisen verhindert.”

Neues Medium – neue Herausforderungen

Weil High-End-VR-Systeme wie Facebooks Oculus Rift und HTCs Vive mit der Zeit auch immer zugänglicher und erschwinglicher wurden, wollten Dr. Liebermann und Dr. Erdelt dann den nächsten Schritt in Richtung komplette Immersion gehen. Das brachte allerdings neue Herausforderungen mit sich. Erstmal von technischer Seite: Filmen reichte nicht mehr. Programmieren war das Gebot der Stunde. „Der Zeitaufwand war schon enorm, mich in die Unity Engine einzuarbeiten”, erzählt er. Die Entwicklungsplattform bildet auch die Grundlage für aktuelle Videospiele und ist – ganz wichtig – für die nicht-gewerbliche Nutzung kostenlos.

Daneben mussten sich Dr. Liebermann und Dr. Erdelt aber auch Gedanken darüber machen, wie Nutzer sich nun in den neuen Welten bewegen sollten. „Für viele Menschen ist die virtuelle Realität immer noch ein neues Erlebnis. Die Bedienung darf da keine Hürde darstellen”, weiß auch Professor Kranzlmüller. Deswegen entschieden sich die Zahnmediziner für ein Bedienkonzept, das sich auf lediglich zwei Tasten beschränkt. Eine zum Bewegen, eine zum Interagieren.

Voll im Trend

Und dann waren da noch die Anschaffungskosten. Um die zu decken, wendeten sich Dr. Liebermann und Dr. Erdelt an die Fachschaft Zahnmedizin. Die zeigte sich direkt begeistert von der Vision der Wissenschaftler und ermöglichte es ihnen, das benötigte VR-Equipment aus Studiengeldern zu beschaffen.

Um ihr VR-Projekt noch weiter ausbauen zu können, müssen sich Dr. Liebermann und Dr. Erdelt aber auch um weitere Finanzierungsmöglichkeiten bemühen: „Bei Ausschreibungen für Fördergelder konkurrieren wir oft gegen Architekten und Ingenieure”, erzählt Dr. Erdelt. „Wir haben viele Absagen bekommen, aber seit wir unsere Erfahrung mithilfe von Publikationen belegen können, hoffen wir auf größeren Erfolg.”

Gerade in der aktuellen Corona-Krise habe sich eine hohe Affinität für Publikationen rund um das Thema virtuelle Realität gezeigt. „Wir haben momentan das Gefühl, dass auch die Fachzeitschriften einen großen Wert auf die Weiterentwicklung und Implementierung digitaler Lehre legen”, so Dr. Liebermann. „Aber auch abseits der Pandemie denken wir, dass durch digitale Lehre, und Virtual Reality im Besonderen, besser auf die Lernbedürfnisse der Studierenden eingegangen werden kann.” Mit ihrem VR-Projekt wollen sie vor allem eins: Studierenden mehr Optionen bieten.

Deswegen spricht die virtuelle Lernumgebung alle Sinne an. Wenn Studierende sich von Oberkiefer zu Unterkiefer bewegen, können sie Zähne anfassen, sich Informationstafeln durchlesen, aber auch Audiospuren anhören, die weiterführende Informationen beinhalten. Dr. Liebermann ist sich sicher: „So kann jeder Lerntyp individuell gefördert werden.” Um den Studierenden noch mehr Flexibilität zu ermöglichen, sollen sie sich die VR-Brillen künftig auch ausleihen können. Mit der nächsten Förderlinie wollen die Wissenschaftler eine größere Zahl All-in-One Headsets, die keinen leistungsstarken Rechner benötigen, anschaffen.

Das nächste Level

Mittlerweile ist das Projekt von Dr. Erdelt und Dr. Liebermann weit gekommen. Von einem einzelnen Zahn, der sich auf einem Handy dreht, zu einer voll interaktiven Lernumgebung. Es ist aber auch schon das nächste Projekt in Umsetzung. „Ein großer Faktor für Unsicherheiten bei unseren Studierenden sind in der Regel die ersten Patientenbehandlungen und die damit notwendigen prothetischen beziehungsweise teils interdisziplinären Fallplanungen”, erklärt Dr. Liebermann. „Wir wollen den Stress der angehenden Zahnärzte in diesen nervenaufreibenden Situationen reduzieren.”

In einen virtuellen Raum sollen Studierende künftig alle relevanten Daten für eine Zahnbehandlung hochladen können. Mithilfe von mannshohen 3D-Modellen der Kiefer und der Akten ihrer Patienten sollen sie sich dort auf die Behandlung vorbereiten können: indem sie Röntgenbilder betrachten und Implantate probeweise in ein 3D-Kiefermodell setzen – buchstäblich in die Behandlung eintauchen. In der aktuellen Fassung funktioniert das auch schon. Trotzdem wollen Dr. Liebermann und Dr. Erdelt noch mehr Features und optische Upgrades. Das ist nochmal ein Haufen Arbeit – aber das hat die beiden vor drei Jahren auch nicht aufgehalten.

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