Von der Vielfalt multimedialer Lernumgebungen im Fachbereich Medizin

Die Lehre im Bereich der Medizin ist mit einigen Besonderheiten verbunden. Diese werden auch in den drei Fellowships der Medizinischen Fakultät (Universität Leipzig), die wir in der aktuellen Newsletter-Ausgabe vorstellen, reflektiert. Im Interview mit den beiden Tandems Christian Etzold und Prof. Dr. med. Ines Gockel sowie Anja Schultze und Julia Hoffmann und dem Einzel-Fellow Alexander Lachky erhalten wir einen Einblick in die Digitalisierungsmöglichkeiten im Fachbereich Medizin.

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Multimedial, interaktiv und virtuell – Schlagworte des digital gestützten Lernen und was sie für die Medizindidaktik bedeuten.

Die Digital Fellows, die wir in der aktuellen Newsletter-Ausgabe vorstellen, haben einiges gemeinsam: Sie arbeiten alle an der Universität Leipzig und ihr Fellowship ist im Fachbereich Medizin angesiedelt. Zwei Tandems entwickeln ein multimediales Lernmodul. Dabei adressieren Christian Etzold und Prof. Dr. med. Ines Gockel die Genderkompetenzen von Studierenden, während Anja Schultze und Julia Hoffmann die hochschul- und mediendidaktischen Kompetenzen der Lehrenden u. a. mit einem speziellen Fokus auf die Medizindidaktik fördern wollen. Einen anderen Weg geht Alexander Lachky, der in seinem Fellowship die Anwendbarkeit von Virtual Reality innerhalb der medizinischen Lehre überprüfen und weiterentwickeln möchte. Den spezifischen Fokus und ihre bereits gemachten Erfahrungen stellen die Digital Fellows im Interview vor.

Welche Chancen ergeben sich Ihrer Meinung nach aus der Digitalisierung für den Fachbereich Medizin? Inwiefern werden diese in Ihrem Fellowship adressiert?

A. Lachky: Ich als Medienpädagoge sowie Medienwissenschaftler sehe generell in der Nutzung „neuer“ Medien – welches Medium ist schon wirklich neu – hohes Potenzial. In der Medizin ist die so genannte Digitalisierung eine besondere Herausforderung. Der Studiengang der Humanmedizin, wo ich mit meinen wissenschaftlichen Hilfskräften VR testen und perspektivisch curricular verankern möchte, ist im Vergleich zu anderen Studiengängen verhältnismäßig tradiert. Mir geht es bei den Chancen von Multimedia um die verschiedenen Zugangswege zu Wissen. Gerade in der Medizin ist es von besonderer Bedeutung verschiedene Lerntypen zu berücksichtigen. Da wir eine Präsenzfakultät sind, können Medien vorrangig als Add-on zur Präsenzlehre verstanden werden. Dies ist auch gut so, da der Beruf des/der Mediziners/-in maßgeblich teamorientiert ist und von interpersoneller Interaktion lebt. Daher hoffe ich, dass mehr Lehrende den Mehrwert v. a. audiovisueller Medien verstehen, damit Studierende sich in aktueller Form Wissen aneignen können und in der Präsenzzeit eben nicht vorgelesen, sondern maßgeblich Anwendungswissen kommuniziert wird. Long story short: Im Sinne des Flipped Classroom sehe ich unerschöpfliches Potenzial für digitale Medien in der Medizin. Ich denke, es ist erst der Anfang, wenn ich allein an VR und AR denke… Dabei werden wir zukünftig alle Medien, vom Buch bis zur High-End-VR/AR-Technik alles benötigen, um gute Lehre zu betreiben.

Da die Simulation in der medizinischen Ausbildung eine besondere Rolle einnimmt, jedoch sehr teuer ist, erscheint mir VR auch im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit, welche auch in der Lehre leider immer Berücksichtigung finden muss, sehr nachhaltig. Darüber hinaus können Situationen simuliert werden, welche gegenwärtig mit Schauspielpatienten/-innen sowie sehr komplexen Simulatoren umgesetzt werden. Diese will und kann ich mit VR nicht ersetzen. Jedoch kann mit einer einmal angeschafften Soft- sowie Hardware theoretisch unendlich häufig ein*e Studierende*r auch bereits in einem frühen Stadium der medizinischen Ausbildung mit sehr real wirkenden Szenarien lernen. Letztlich stellt die Lehre am Menschen auch eine Gefahr für die Patient*innen dar. Die Studierenden können mit VR dabei Vorgänge immer wieder wiederholen, danach in Realität beobachten und unter Anleitung selbst Hand anlegen. Bspw. kann mit VR ein Brand simuliert werden, ein kollabierter Mensch im Park oder eine andere extreme Stresssituation, welche in einem Skillslab mit Simulatoren sowie Schauspielenden gar nicht umgesetzt werden kann. Durch die Immersion im VR-Raum ist bereits belegt, dass der Körper angesprochen wird und bspw. der Puls steigt oder Hormone ausgeschüttet werden. Genau dies fehlt bisher in der medizinischen Ausbildung, vor allem außerhalb der Lehre im Klinikum. Diese Annahmen möchte ich mit diesem Fellowship praktisch eruieren und mit Hilfe von Evaluation durch Lehrende sowie Studierende deren curriculare Einsatzfähigkeit untersuchen bzw. aus meiner Sicht bestätigen.

C. Etzold & Prof. Dr. Gockel: Wir sehen hier vor allem vier wesentliche Punkte: 1.) Individualisierung und Flexibilisierung des Lernens – z. B. hinsichtlich Lernstil, Lerngeschwindigkeit, Zeitpunkt und Umfang, sodass jeder Studierende die Möglichkeit hat, unabhängig von persönlichen Kontextfaktoren, wie z. B. Kinderbetreuung, Krankheit, persönlicher Schicksalsschläge und/oder Nebenjob, das Lernen in den individuellen Tagesablauf zu integrieren. 2.) Steigerung der Lernmotivation & -bereitschaft – durch ansprechende Multimediaanwendungen (z. B. Bereitstellung von Podcasts, Durchführung von online-Videokonferenzen, etc.), praxisnahe Lernszenarien (z.B. live Übertragungen von Operationen aus dem OP-Saal) und klinischen Fallbeispielen (z.B. online-Fallkonferenzen). 3.) Anpassung des Lehrkonzepts & der Lernprozesse – an die zunehmende Digitalisierung im Studium und des Lernens unter dem Einsatz diverser multimedialer Lehrkonzepte & medizindidaktischer Methoden – auch im Hinblick auf die Klausur- und Examensvorbereitung. Und 4.) Unbegrenzte, zeiteffiziente & kostengünstige Ausbaumöglichkeit von e-Learning-Angeboten – was einerseits eine bessere Ressourcenausschöpfung durch eine Verbreiterung der Zielgruppe und andererseits die Bereitstellung von über das curriculare Wissen hinausreichenden Aspekten ermöglicht.

A. Schultze & J. Hoffmann: Wir sehen hier große Chancen. Konkret für unser Fellowship besteht die Möglichkeit, die vielbeschäftigten Ärzt*innen (3-Fachbelastung durch Patientenversorgung, Lehre und Forschung) und die vielforschenden Naturwissenschaftler*innen (Belastung durch Forschung, Lehre, Selbstverwaltung) durch Online-Selbstlernkurse bei der Vermittlung didaktischer Basics zu unterstützen. Dafür werden wir einen Selbstlernkurs für Lehrende auf der Lernplattform Moodle entwickeln, der mithilfe von flexiblen Mikrolerneinheiten didaktisches Basiswissen vermittelt. Damit binden wir unsere Zielgruppe nicht zeitlich an feste Präsenzweiterbildungen, sondern ermöglichen ihr, sich bei zeitlichen Verfügbarkeiten selbstbestimmt und flexibel (zeitlich, örtlich, Lerntempo, Wiederholbarkeit) auf die Anforderungen der studentischen Lehre vorzubereiten. So kann z. B. auch mal in einem ruhigen Nachtdienst nachgelesen werden, wie man gut formulierte Lernziele erstellt oder sich ein Video zum Thema Constructive Alignment (also der Übereinstimmung von Lernziel-Lernmethode-Prüfungsform) angesehen werden. Die Lerneinheiten sind alle gleich strukturiert: nach einem Comic zum Thema, gibt es einen kurzen Input und es folgen verschiedene weiterführende Links und Literatur. Am Ende jeder Einheit gibt es einen kurzen Wissenstest/Quizz, um spielerisch den Lernerfolg zu überprüfen.

Wo liegen Ihrer Meinung nach die Besonderheiten des digital gestützten Lehren und Lernens in der medizinischen Lehre und Ausbildung?

A. Lachky: Das Medizinstudium ist sehr visuell geprägt. Daher sind Bilder – Videos und VR sind auch nur vielen Bilder – aus meiner Sicht das beste Medium, um medizinisches Wissen darzustellen. Ohne Texte, Grafiken, Statistiken etc. kann kein Student und keine Studentin ein/-e gute/-r Mediziner/-in werden. Jedoch sagt ein Bild mehr als tausend Wort – ist ein flacher Spruch, trifft jedoch den Nerv. Das Beispiel eines dreidimensionalen Modells eines pulsierenden Herzens, wo bspw. verschiedenen Defekte am Organ simuliert werden können, kann meterweise Bücher befüllen bzw. unendlich viele, zweidimensionale Abbildungen erzeugen. Mit diesem 3D-Modell kann in einer Vorlesung sehr gut visualisiert werden, worum es geht. Da kann bei unserer Ausbildung die dritte Dimension endlich Beachtung finden, da diese von hoher Relevanz ist, wenn zum Beispiel an die operative Medizin gedacht wird. Wenn ich mir vorstelle, wie mit einem zweidimensionalen Bild – mal abgesehen von der Übung am echten Menschen – auf eine Operation vorbereitet wird, kann einem nur angst und bange werden, weil die essentielle Tiefe fehlt. Mit Videos bzw. Animationen kann diese Tiefe z. T. dargestellt werden. Mit VR jedoch ist diese Tiefe greif- und verstehbar.

C. Etzold & Prof. Dr. Gockel: Wir begreifen die „Modernisierung der Lehre“ durch den Einsatz verschiedener digitaler Lehr- und Lernformate als einen Fluch und Segen zugleich. Natürlich führt sie, neben dem persönlichen Lernerfolg, gleichzeitig zu einer Entwicklung einer Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien, z. B. durch die Durchführung von Videokonferenzen und Teammeetings, das Halten von online-Vorträgen und die Nutzung verschiedener Lernsoftware. Gleichzeitig stellt die Umstellung und das Aneignen eines neuen Lernverhaltens, das viel Disziplin, Eigenverantwortung und Selbstorganisation voraussetzt, zumindest am Anfang eine Herausforderung für die Studierenden dar.

A. Schultze & J. Hoffmann: In unserem Fall eines Online-Selbstlernkurses für Lehrende sollen die Lehrenden auch ihrer Vorbildfunktion für die Studierenden gerecht werden und selbst E-Learning-Erfahrungen sammeln. Dadurch werden sie angeregt, selbst digitale Elemente in der Lehre und auf der Lernplattform Moodle einzusetzen. Der Moodle-Kurs beinhaltet auch anschauliche Beispiele aus dem Fachbereich Medizin z. B. zum Problemorientierten Lernen (POL 2) oder zum Thema Akut- und Notfallmedizin, so dass die Lehrenden sich hier gut wiederfinden.

Wo sehen Sie die Grenzen digitaler Lehrformen in Ihrem Fachbereich?

A. Lachky: Wie gesagt, sind wir eine Präsenzeinrichtung. Dies ist z. T. eine Herausforderung, da gewisse Teile des Curriculums in der Tat im „Homeoffice“ autodidaktisch mit Medien angeeignet werden könnten. Die Präsenz ist jedoch vor allem in der Medizin sehr wichtig, eben wie die bereits angesprochene menschliche Interaktion bspw. zwischen Arzt/Ärztin und Patient/-in. Auch in der Forschung ist die Kooperation mit dem Menschen unabdingbar. Wenn ich bspw. an Einrichtungen denke, die die anatomische Ausbildung vollständig digitalisiert haben, schlägt mein Technikherz höher, jedoch mein didaktischer Ansatz zittert. Der Verzicht auf Körperspender – so werden Personen genannt, die ihren Körper für Lehre und Forschung bereitstellen – geht aus meiner Sicht ein essentieller Bestandteil der Ausbildung verloren. Wie soll ein Bildschirm oder auch eine VR-Brille einen echten Körper ersetzten können, an dem präpariert wird, wo ich jede Sehne und jeden Muskel be- und ergreifen kann. Bei aller Liebe zu Technik ist die Digitalisierung kein Allheilmittel. Dies ist auch in meiner Anstellung als Beauftragter für (neue) Medien an der Fakultät die große Herausforderung. Ich möchte vieles digitalisieren und muss den Spagat zum „Analogen“ machen. Viele Lehrende (vor allem in eher theoretischen Fächern) haben durch Medien die Befürchtung wegrationalisiert zu werden. Wenn es nach mir geht, zu Unrecht. Wie jedoch aktuelle Beispiele zeigen, sind solche Gedanken nicht ganz abwegig.

C. Etzold & Prof. Dr. Gockel: Die goldene Regel der medizinischen Ausbildung lautet: „Sag es mir, und ich werde es vergessen. Zeig es mir, und ich werde es vielleicht behalten. Lass es mich tun, und ich werde es können“. Der praktische Unterricht am Krankenbett – und somit der direkte Kontakt mit den Patient*innen – ist unabdingbar, damit das mühselig gelernte Wissen nicht nur Buchstaben und Wörter bleiben, sondern auch im klinischen Alltag von den Studierenden angewendet und interpretiert werden kann, sodass letzten Endes das höchste Ziel – den Menschen zu helfen – erreicht werden kann. Deswegen versuchen wir unseren Studierenden immer zu vermitteln: „Lernen Sie nicht nur stur auswendig, Lernen Sie für Ihr weiteres Leben“. Denn zu den wichtigsten Säulen gehören, neben dem pathophysiologischen, diagnostischen und therapeutischen Faktenwissen, auch Soft-Skills wie Teamarbeit und -fähigkeit, Eigeninitiative, Kommunikationsfähigkeit und Selbstmanagement sowie Ziel- und Ergebnisorientierung. Diese Eigenschaften, die für den Umgang mit den Patient*innen und die Bewältigung des klinischen Arbeitsalltags essentiell sind, können wir nur bedingt über e-Learning-Formate vermitteln.

A. Schultze & J. Hoffmann: Didaktische Weiterbildung sollte selbstverständlich nicht rein digital erfolgen, hier sehen wir die Grenzen des Formats. Aber in Kombination mit kollegialer Beratung/Austausch mit anderen Lehrenden und hochschuldidaktischen Beratungsstellen (z. B. MDZ, HDS, LaborUni) und in Kombination mit weiterführenden Workshops können hier sehr gute Synergien geschaffen werden. Wenn das Basiswissen selbständig digital erarbeitet wurde, kann es in weiterführenden Präsenzworkshops diskutiert, vertieft in die Konzeption und Weiterentwicklung der eigenen Lehrveranstaltung einbezogen werden. Dies ist z. B. in dem Format Werkstatt „an der eigenen Lehre feilen“, in Verbindung mit dem Medizindidaktischen Basiskurs („Handwerkszeug für gute Lehre in der Medizin“) oder im Hochschullehrertraining möglich. Im Rahmen des Hochschullehrertrainings wurden bereits die Materialien aus dem Pilot- Didaktikkurs erfolgreich eingesetzt, um im Sinne des Flipped Classroom-Prinzips Grundlagenwissen online vor der Präsenzphase auszulagern.

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