Zur Verteidigung der Präsenzlehre

Offener Brief

In den letzten Jahren haben sich an den Hochschulen Elemente einer digitalen Lehre immer mehr durchgesetzt: zunächst als Unterstützung der Präsenzlehre, dann als deren Ergänzung oder gar als eine mögliche Alternative, und nun, mit Corona, als glückliche Rettung. Und in der Tat: Ohne digitale und virtuelle Formate hätte sich das Sommersemester 2020 nicht durchführen lassen. Und auch grundsätzlich leisten digitale Elemente mittlerweile einen wertvollen Beitrag zur Hochschullehre. Im Gefühl des plötzlich möglichen digitalen Sprungs nach vorn drohen indes drei Aspekte verloren zu gehen, die unserer Überzeugung nach von grundlegender Bedeutung für das Prinzip und die Praxis der Universität sind:

1. Die Universität ist ein Ort der Begegnung. Wissen, Erkenntnis, Kritik, Innovation: All dies entsteht nur dank eines gemeinsam belebten sozialen Raumes. Für diesen gesellschaftlichen Raum können virtuelle Formate keinen vollgültigen Ersatz bieten. Sie können womöglich bestimmte Inhalte vermitteln, aber gerade nicht den Prozess ihrer diskursiven, kritischen und selbständigen Aneignung in der Kommunikation der Studierenden.

2. Studieren ist eine Lebensphase des Kollektiven. Während des Studiums erarbeiten sich die Studierenden Netzwerke, Freundschaften, Kollegialitäten, die für ihre spätere Kreativität, ihre gesellschaftliche Produktivität und Innovationskraft, für ihren beruflichen Erfolg und ihre individuelle Zufriedenheit von substantieller Bedeutung sind. Dieses Leben in einer universitären Gemeinschaft kann in virtuellen Formaten nicht nachgestellt werden.

3. Die universitäre Lehre beruht auf einem kritischen, kooperativen und vertrauensvollen Austausch zwischen mündigen Menschen. Dafür, so sind sich Soziologie, Erziehungs-, Kognitions- und Geisteswissenschaften völlig einig, ist das Gespräch zwischen Anwesenden noch immer die beste Grundlage. Auch dies lässt sich nicht verlustfrei in virtuelle Formate übertragen.

Mit Blick auf diese drei Aspekte wollen wir den Wert der Präsenzlehre wieder in Erinnerung rufen. Wir fordern eine – vorsichtige, schrittweise und selbstverantwortliche – Rückkehr zu Präsenzformaten. Was die Schulen zu leisten in der Lage sind, sollte auch Universitäten möglich sein: die Integration von Elementen der Präsenzlehre, etwa in kleineren Gruppen in größeren zeitlichen Abständen, je nach Bedarf, je nach lokalen Gegebenheiten. Einzelne Universitäten, einzelne Fakultäten könnten hier individuelle, verantwortliche Modelle entwickeln.

Wir weisen auf die Gefahr hin, dass durch die aktuelle Situation die herkömmlichen Präsenzformate an Wertschätzung und Unterstützung durch die Hochschulleitungen, die Bildungsministerien und die Politik verlieren könnten, eine Unterstützung, die sie in der Zeit nach Corona dringend brauchen werden. So sinnvoll und wichtig Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus sind: Corona sollte nicht zu einer nachgereichten Begründung für Entwicklungen in der Lehre werden, die vor Corona offen und kritisch diskutiert wurden. Diese kritischen Debatten dürfen nicht durch scheinbare Evidenzeffekte, wie sie die Pandemie bisweilen produziert, abgekürzt werden.

Die Präsenzlehre als Grundlage eines universitären Lebens in all seinen Aspekten gilt es zu verteidigen.

ErstunterzeichnerInnen:

  1. Prof. Dr. Roland Borgards, Universität Frankfurt, Germanistik
  2. Prof. Dr. Johannes F. Lehmann, Universität Bonn, Germanistik
  3. Prof. Dr. Juliane Vogel, Universität Konstanz, Germanistik 
  4. Prof. Dr. Jürgen Fohrmann, Universität Bonn, Germanistik, ehemaliger Rektor der Uni Bonn
  5. Prof. Dr. Heinrich Detering, Universität Göttingen, Germanistik 
  6. Prof. Dr. Mariacarla Gadebusch Bondio, Universität Bonn, Medizingeschichte
  7. Prof. Dr. Christine Lubkoll, Universität Erlangen, Germanistik 
  8. Prof. Dr. Albrecht Koschorke, Universität Konstanz, Germanistik
  9. Prof. Dr. Armin Schäfer, Universität Bochum, Germanistik
  10. Prof. Dr. Hartmut Rosa, Universität Jena, Soziologie
  11. Prof. Dr. Wolfgang Riedel, Universität Würzburg, Germanistik
  12. Prof. Dr. Birgit Münch, Universität Bonn, Kunstgeschichte
  13. Dr. Eva Eßlinger, Universität München, Germanistik
  14. Prof. Dr. Christian Begemann, Universität München, Germanistik
  15. Prof. Dr. Nico Pethes, Universität zu Köln, Germanistik
  16. Prof. Dr. Julika Griem, Direktorin des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen
  17. Prof. Dr. Gabriele Brandstetter, FU-Berlin, Theater- und Tanzwissenschaft
  18. Prof. Dr. Susanne Komfort-Hein, Universität Frankfurt, Germanistik
  19. Prof. Dr. Andrea Polaschegg, Universität Siegen, Germanistik
  20. Prof. Dr. Steffen Martus, HU-Berlin, Germanistik
  21. Prof. Dr. David Kaldewey, Direktor des Forum Internationale Wissenschaft der Universität Bonn
  22. Prof. Eva Geulen, Direktorin des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin
  23. Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger, Rektorin des Wissenschaftskolleg zu Berlin
  24. Prof. Dr. Christoph Möllers, HU-Berlin, Rechtswissenschaft
  25. Prof. Dr. Joseph Vogl, HU-Berlin, Germanistik
  26. Prof. Dr. Ethel Matala de Mazza, HU-Berlin, Germanistik
  27. PD Dr. Corinna Schlicht, Universität Duisburg-Essen, Germanistik
  28. Prof. Dr. Bettine Menke, Universität Erfurt, Germanistik
  29. Prof. Dr. Marion Bönnighausen, Universität Münster, Germanistik / Literatur- und Mediendidaktik
  30. Prof. Dr. Florian Radvan, Vorstandsvorsitzender des Bonner Zentrum für Lehrerbildung, Universität Bonn, Deutschdidaktik
  31. Prof. Dr. Ulla Haselstein, FU-Berlin, Amerikanistik
  32. Prof. Dr. Niels Werber, Dekan und Prodekan für Forschung der Fakultät I der Universität Siegen, Germanistik
  33. Prof. Dr. Herbert Dreiner, Universität Bonn, Physik

Den offenen Brief unterzeichnen

Bis Sonntag, 7. Juni 2020, 18 Uhr als Erstunterzeichner*in

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