Digitalisierung geht nicht wieder weg – Lehrkräfte müssen raus aus der Komfortzone
Abwarten und abfälliges Gerede vom „Neuland“ sind nicht mehr angemessen. Die Macht, die von der Digitalisierung ausgeht und die Verantwortung, die das Bildungssystem hat, müssen miteinander in Einklang gebracht werden.
Da ist zum einen die Veränderung durch die Digitalisierung: Digitalisierung verändert die Gesellschaft – ob wir das wollen oder nicht. Bisher hat man gern als Bildungsbügerin und -bürger darüber gelächelt und insgeheim gehofft, dass das schon wieder weggeht und sich die Aufregung legt. Die Krise zeigt nun, dass dies ein Fehler war. Viele Lehrkräfte stellen gerade durch die zwangsweise Nutzung der Informationstechnologien fest, dass sie die Technik nicht nur nicht bedienen können, sondern dass sie auch nicht verstehen, was dahintersteckt und es den Kindern somit nicht erklären können. Die Wichtigkeit einer soliden informatischen Grundbildung wurde unterschätzt. Ihr Fehlen wird nun zur großen Herausforderung für die ganze Gesellschaft und die Mündigkeit aller Bürgerinnen und Bürger.
Zum anderen ist da die Hoffnung auf bessere Bildung und Teilhabe, die mit der Technik in die Schulen kommt. Die öffentliche Diskussion erweckte vor der Krise oft den Anschein, dass die Technik, die man mit dem Digitalpakt in die Schule stellt, ihre eigene Wirkung entfalten kann. Etwa wie eine Schmerztablette, die – in Wasser aufgelöst bzw. in das WLAN der Schule eingehängt – ihre Wirkstoffe auf geheimnisvolle Weise in den Kreislauf der Schule entfalten und so den Kopfschmerz rund um Digitalisierung in Schule heilt. Dass das so nicht geht, wird jetzt deutlich, weil die Grundkompetenzen bei Lehrenden und Lernenden fehlen. Wie will man auch souverän mit Schülerinnen und Schülern ein Medium nutzen, das man selbst nicht beherrscht? Die nächste Herausforderung ist somit die Haltung und Souveränität der Lehrkräfte im täglichen Gebrauch und pädagogisch sinnvollen Einsatz der Technik. Nur wer sich auskennt, kann den Nutzen beurteilen.
Also ist die zweite Herausforderung die Lehrkräftebildung und die Frage, wie in Kürze und langfristig alle Lehrkräfte dazu verpflichtet werden können, sich mit den digitalen Medien für den Unterricht einerseits und den informatischen Grundlagen andererseits zu beschäftigen, um die nötige Souveränität im Unterricht und eine Vorbildfunktion zu erlangen.
Die dritte Herausforderung ist die Qualitätssicherung und Gleichberechtigung. Im aktuellen Schulsystem sind Noten die Währung, die bestimmt, was wichtig ist und was nicht. Solange es keine verpflichtenden Noten sowohl für Schülerinnen und Schülern als auch für Lehrkräfte in der Ausbildung zur digitalen Bildung und zur informatischen Grundlagen gibt, solange wird sich nichts verbessern und solange werden auch diejenigen, die das können und umsetzen nicht wertgeschätzt. Durch reguläre Noten in Informatik in der Schule und in entsprechenden Modulen im Studium würden insbesondere die Mädchen, jungen Frauen und angehende Lehrerinnen endlich die Chance haben, positives Feedback zu bekommen und feststellen können, dass sie mindestens genau so gut sind wie ihre männlichen Kollegen und ein gerade gutes Beispiel für die Kinder abgeben.
Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Ähnliches formulieren Fachleuten und Kommissionen seit über 30 Jahren (BLK 1987, Enquete- Kommissionen 1998 und 2011, Dagstuhl-Erklärung 2016 u.v.m.). Bleibt zu hoffen, dass die Bildungspolitik aus der Krise auch die Lehre zieht, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gute Ratschläge geben können, damit wir bei der nächsten Krise besser dastehen, denn „nur derjenige hat Erfolg, der etwas tut, während er auf den Erfolg wartet“ (Edison).
Und bleibt zu hoffen, dass alle Lehrkräfte aus der aktuellen Situation die Lehre ziehen, dass es sie nicht umbringt, mal die analoge Komfortzone zu verlassen und etwas Digitales und Unbekanntes auszuprobieren – und dass sie endlich nicht mehr mit Privatgeräten arbeiten müssen.
Dieser Beitrag wurde von Prof Dr. Ira Diethelm verfasst und erschien im kürzlich veröffentlichten Arbeitspapier Digitale Bildung nach Corona. Prof Dr. Ira Diethelm ist Universitätsprofessorin für Didaktik der Informatik an der Universität Oldenburg und Mitglied im Präsidium der Gesellschaft für Informatik e.V. (GI) . 2010 bis 2012 war sie darüber hinaus Vizedirektorin des Didaktischen Zentrums Universität Oldenburg. Zuvor hat sie als Gymnasial-Lehrerin für Mathematik, Chemie und Informatik in Braunschweig gearbeitet. Ira Diethelm ist Mitglied des Digitalrats Niedersachsen.